Briefe aus Waltons Mountain - Teil 6


Das muss man erlebt haben, weil man es nicht erzählen kann! Wie John Walton jun. nach Monaten der Abwesenheit von seiner Familie begrüßt wurde, war schlicht gigantisch. Am glücklichsten allerdings erschien mir seine Mutter, die ihn lächelnd in die Arme nahm. Walton sen. sagte immer wieder „Junge“ zu ihm und Elizabeth hing ihm plaudernd am Hals.

Vor dem Essen musste Walton jun. das Gebet sprechen. Es gab gebratenes Huhn. Ich genoss das Festessen und hielt mich aus den Gesprächen der Familie so gut es ging heraus. Walton jun. arbeitet in New York als Journalist (wir sind also Kollegen) und er ist Buchautor, wenn er die Redaktionstür hinter sich geschlossen hat. Nun will er fünf Wochen Urlaub bei seiner Familie verbringen und sich für sein Buch inspirieren lassen.

Ich sprach den ganzen Abend nicht mehr mit ihm, aber als ich mich nach dem Essen diskret in meinen Schuppen zurückziehen wollte, wurde ich von allen sehr eindringlich zum Bleiben aufgefordert.

Ich kann Euch sagen, South Bend ist wirklich nicht New York! Denn was Walton jun. so über seine Arbeit erzählt, ist wirklich spannend. Kultur, Politik, Sport, Klatsch und Tratsch – diese Stadt muss ein Schmelztiegel der Geschichten, Abenteuer und Menschen sein. Aber wer wie dieser junge Walton in der hiesigen Einöde aufgewachsen ist, muss die Reise nach New York wie einen Sprung in eiskaltes Wasser empfinden. Nur gut, dass er hier seine Familie hat. Und als ich abends dann doch in meinem Bett lag, hörte ich mit endlich selbst, worüber mir Elizabeth immer erzählt hatte: Tatsächlich, da rief man sich von Zimmer zu Zimmer einen Gute Nacht Gruß zu. Nach ein paar Minuten war dann endlich Ruhe eingekehrt – beinahe. Denn ich hörte, wie noch ein Fenster geöffnet wurde und der junge Walton „gute Nacht Henry“ rief. Und nachdem ich geantwortet hatte, räusperte sich Walton sen. und sagte mit einer Stimme, die keinen Widerspruch mehr duldete: „Gute Nacht miteinander“.

Ich bin integriert, ich gehöre dazu! Inzwischen habe ich die ersten Stunden in der Sägemühle gearbeitet. Lacht nicht! Wenn man es mir genau und zehn Mal erklärt, begreife ich auch handwerkliche Arbeit. Die grobe Sägearbeit kann ich bereits erledigen. Sie ist zwar ziemlich schwer, aber dafür kann ich nicht so viel dabei kaputt machen und bin froh, dass ich etwas arbeiten kann. Den jungen Walton sehe ich sehr selten. Er sitzt in seinem Zimmer und man hört nur das Klappern seiner alten Schreibmaschine. Er käme mit seinem Buch gut voran, ließ er neulich beim Essen wissen. Ich bekomme inzwischen auch wieder Lust zum Schreiben, besonders wenn ich höre, wie flüssig er tippt. Vor ein paar Tagen hat Jason mir auf dem Klavier ein paar Stücke von Robert Schumann vorgespielt. Er wird sicher ein wirklich guter Pianist. Er liebt jeden Anschlag und hat viel Gefühl. Seine Familie versteht nicht viel von Musik, aber jeder hört ihm gern zu, wenn er spielt. Wenn er übt, halten sie sich die Ohren zu und stören ihn. Dann wird er ungehalten und um dem unausweichlichen Krach aus dem Weg zu gehen, besucht er die Baldwin-Ladys und übt dort weiter.

Neulich schlug er mir auf die Schulter und lud mich zum Mitkommen ein. Ich konnte mich an das Haus der Ladys gar nicht mehr recht entsinnen, denn als ich dort vor einigen Monaten eintrat, war ich ja wirklich richtig krank. Nun aber stand ich vor dem im viktorianischen Stil erbauten Haus und staunte nicht schlecht über den Luxus. Aber diese Lady’s! Also, sie freuten sich natürlich besonders über Jason, denn wenn er dort am Klavier übt, versammeln sich beide Damen und hören andächtig zu – egal, ob er die Tonleiter rauf und runter spielt oder für das Konservatorium ein Konzert einübt.

„Henry“, rief Miss Mamie mir zu und begrüßte mich mit ausgestreckten Händen, „dass Sie uns endlich besuchen! Ich habe schon vor ein paar Wochen zu meiner Schwester gesagt: Schwester, wir müssen Mr. Decker einladen!“ „Nun bin ich ja endlich da“, sagte ich und lachte die beiden Damen an. Es ist ein prächtiges Haus mit einer gediegenen Einrichtung. Die beiden ältlichen Bewohnerinnen sind zwar von einigem Dünkel aber weder hochnäsig noch geizig. Im Gegenteil.

Aus einer Kristall-Karaffe wurde mir sofort ein Glas vom „Rezept“ eingegossen. Es ist erstaunlich, wie das Gehirn und die Erinnerung sozusagen „Hand in Hand“ arbeiten. Kaum hatte nämlich meine Zunge das hochprozentige Getränk berührt, stellte sich sofort die Erinnerung an den Beginn meiner schlimmen Krankheit ein, die in ihren Anfängen mit dem „Rezept“ bekämpft werden sollte. Es ist ein köstlicher Tropfen! Er ist natürlich illegal gebrannt und farblos. Wo sollten die Schwestern in ihrem Haus auch noch das Rezept in Eichenfässer lagern, damit der Whisky dort seine sonst übliche braune Färbung bekommt. Kaum hatte ich ausgetrunken, schenkte mir Miss Emely bereits nach, während Miss Mamie ein Tablett mit einer Kanne Kaffee und Kuchen hereinbalancierte. Jason hatte inzwischen längst am Klavier Platz genommen und sich in seinen Schumann vertieft, als es plötzlich an der Tür so schellte, dass ich zusammen zuckte.

Cora Beth Godsey, die bemerkenswerte Gattin des Gemischtwarenhändlers rauschte wie eine schlanke Walküre in den Raum. Jason brach sein Spiel ab, verdrehte unmerklich die Augen und begrüßte den Eindringling. „Ich wollte nur die bestellten Stoffe herbringen, die Sie in der letzten Woche bestellt haben“, sagte sie beschäftigt zu den Schwestern, bevor sie sich mit gereizter Stimme und zurechtgerückter Brille an mich wandte.

„Wie lange gedenken Sie noch in Waltons Mountain bleiben?“ Ohne eine Antwort abzuwarten, griff sie in ihre Handtasche und legte zwei sauber gefaltete Zeitungsartikel auf den Tisch, rückte meine Tasse und den Kuchenteller zur Seite und strich über das Papier. „Ich habe mich bei Ihrer Zeitung in South-Bend, Indiana, über Sie erkundigt“, ließ sie wissen. „Man hat mir dankenswerter Weise eine Kostprobe ihrer verabscheuungswürdigen Skandalartikel zur Kenntnisnahme übermittelt“. Genüsslich ließ sie jedes Wort auf der Zunge zergehen. „Lady’s!“ Sie rückte die Brille zurecht und wandte sich an die Schwestern, die längst mit einem langen Hals über den Tisch blickten.

„Dieser Gentleman treibt sich in Etablissements herum, die an Ekel und Widerlichkeit nicht zu überbieten sind! Ich kann mit diesem Mann nicht in einem Raum sein!“ Bevor ich etwas sagen konnte, hatte sie schon das Haus verlassen und die Haustür hinter sich zugeschlagen.

Jason war inzwischen aufgestanden und schaute interessiert auf den Artikel. Ihr wisst schon, es ist der, in dem ich in dem Bordell wegen des Frauenhandels recherchiert hatte, dabei in die Razzia geraten bin und Herbert mich versehentlich in etwas unangenehmer Lage fotografiert hatte. Wer von Euch hat um Himmels Willen die Geschichte dieser Cora Beth geschickt?

Jedenfalls hatte ich nun ein Problem. Ich versuchte den Lady’s und Jason zu erklären, dass es nicht so war, wie es ausschaute. Die freundlichen alten Damen schauten betreten an sich herunter und selbst Jason, den ich sehr mag, brachte mir nur noch Skepsis entgegen.

Klar, war ja zu verstehen. „Ich werde das aufklären und meine Redaktion um eine Erklärung bitten“, versprach ich den Lady’s. Sie nickten still und brachten Jason und mich zur Tür. Bei den Waltons herrschte gedrückte Stimmung, als wir das Haus betraten. Auch hier war Cora Beth Godsey schon aufgetaucht um alle vor mir zu warnen.

„Sind Sie auf der Flucht vor der Polizei?“ Mary Ellens Stimme durchschnitt scharf die Stille, die schwer in der Küche lastete. „Unsinn“, sagte ich und bevor ich weiterreden konnte trat Ben die Treppe in das Erdgeschoss hinab. „Verschwinden Sie hier und lassen Sie sich hier nicht wieder sehen!“ sagte er zu mir und dass man mir einen halben Tag Vorsprung geben wolle, bevor man den Sheriff informiere.

„Hier wird niemand aus dem Haus gejagt“, schaltete sich Walton sen. ein. „Wir werden das hier und jetzt klären. Also Henry, wie kommen sie auf das Bild?“ Also erzählte ich die Geschichte von der Razzia, meinen Recherchen und von Herbert, der ausgerechnet mich auf das Foto gebracht hatte, über dass Ihr Euch doch alle damals ausgeschüttet habt vor lachen nochmals. „Daddy, das ist völlig unmöglich“, begehrte Ben auf, als ich geendet hatte. „Doch das ist durchaus möglich“, erklang eine Stimme aus der oberen Etage. „Ich habe in New York beinahe einmal einen ähnlichen Fall erlebt“, sagte Walton jun, der langsam und mit in den Hosentaschen vergrabenen Händen die Stufen herunter stieg. „Ich werde sofort an meine Redaktion telegrafieren“, sagte ich bestimmt und wandte mich zum Gehen. „Das will ich so schnell wie möglich aufklären. Danach werde ich packen und noch heute Abend meine Reise nach Arizona fortsetzen.“ Als ich zur Tür ging, zitterten meine Beine und Walton jun. sprang mir hinterher. „Ich fahre Sie!“ Und gerade als er Gas geben wollte, klopfte es am Fenster der Beifahrertür. „Ich begleite euch“, sagte Mary Ellen und klappte die Notbank im Heck des Wagens heraus. Ich spürte, dass sie auf meiner Seite war, wenn ihr Gesicht auch harte Züge hatte.

„Sie sind ja immer noch hier, Sie Wüstling“, sagte Cora Beth unfreundlich, als wir Ike Godsey’s Laden betraten. „Bitte, ich möchte meiner Redaktion in South Bend, Indiana telegrafieren, damit sich dieser Irrtum aufklären lässt“, sagte ich mühsam. Ike trat zu uns, klopfte mir unter missbilligenden Blicken seiner Ehefrau auf die Schulter. „Ich wollte das alles nicht“, flüsterte er mir zu, während sich Walton jun. und seine Schwester mit Cora Beth unterhielten . „Wann ist mit der Antwort zu rechnen?“, fragte ich. „Nicht vor morgen Mittag“ sagte Ike entschieden. „Schade, dann werde ich ja die Aufklärung dieser Sache nicht mehr miterleben“, entgegnete ich und reichte ihm die Hand. „Ich reise ab, sobald wir wieder am Haus sind!“. „Tun Sie das nicht“, warnte Ike mich und umarmte micht. „Die Waltons mögen Sie“.

Ich klopfte ihm auf die Schulter, stieg in das Auto und wartete auf meine Begleiter. Schweigend fuhren wir heim. Ich schritt schwer in meinen Schuppen.

Hatte ich nicht sowieso lange genug die Gastfreundschaft dieser lieben Menschen in Anspruch genommen? Ich klappte meinen Koffer auf und begann, meine Kleidung einzusortieren, als es klopfte. Walton jun. trat ein und setzte sich schweigend auf einen Stuhl.

„Es tut mir leid, dass es so gekommen ist“, sagte er dann. „Aber verstehen Sie, dass die Menschen hier sehr konservativ sind und solche Fotos großes Aufsehen erregen. Ich glaube Ihnen alles was Sie sagen und morgen wird es sich aufklären“. Ich sank auf das Bett und sah ihn an. „Klar wird es sich aufklären“, sagte ich schroff. „Und wenn morgen diese unglaubliche Frau behauptet, dass ich den Präsidenten ermorden will, lande ich noch im Gefängnis. Nein, vielen Dank!“

„Meine Familie glaubt Ihnen“, warf er ein. „Und Ben?“ erwiderte ich? „Tja Ben!“ Er rieb die Hände auf den Oberschenkeln auf und ab. „Der ist manchmal etwas eigenartig, was Fremde angeht“, versuchte er mich zu beschwichtigen, als es erneut klopfte. „Ich möchte gerne, dass Sie bleiben“. Elizabeth kam auf mich zu und setzte sich neben mich auf das Bett.

„Mary Ellen hat gesagt, sie reitet jetzt in die Berge zu ihren Patienten, weil sie von Ihnen nicht Abschied nehmen möchte“. Ich wollte gerade etwas erwidern, als Walton sen. in die offene Tür trat.

„Wir können Sie nicht aufhalten, Henry“, sagte er und klang sehr bekümmert. „Aber nicht wir haben den Zeitungsartikel gefunden, sondern er wurde uns gebracht.“ Er räusperte sich, setzte sich auf einen Stuhl verschränkte die Arme vor der Brust. „Nichts wird gut, wenn man wütend wegläuft. Natürlich können Sie fahren, wenn Sie wollen. Aber ich bitte Sie zu bleiben, bis sich alles geklärt hat.“

Während er redete, erklang ein leises vertrautes immer lauter werdendes Knattern. Ike Godsey fuhr mit seinem Motorrad vor, im Seitenwagen hatte er seine Frau mitgebracht.

„Eben kam ein Anruf aus South Bend“, rief Ike, schaltete den Motor ab und schwang sich vom Sattel. „Ein Mr. Harper lässt Sie herzlich grüßen, für Ihre Briefe danken und bestätigte uns am Telefon, dass alles so war, wie Sie gesagt haben.“

Vorsichtig schob sich Cora Beth neben ihren Mann und hielt den Kopf gesenkt.

„Mr. Decker“, sagte sie langsam, „ich glaube ich habe ein wenig überreagiert. Aber ich war so entsetzt, als ich Sie auf dem Foto zwischen allen diesen“ – sie rümpfte die Nase – „Frauen entdeckte“. „Natürlich ist Ihre Ehre wieder hergestellt, wir würden uns alle freuen, wenn wir Sie am Sonntag in der Kirche begrüßen dürften“.

Sie stieß ihren Mann an: „Komm Ike, ich muss noch den Konzertraum für Jasons Auftritt schmücken!“ Walton jun. schaute ihnen nach und begann zu lachen, während Elizabeth meinen Koffer auspackte und Jim Bob angelaufen kam.

„Mr. Decker, Sie können gar nicht wegfahren, weil ich Ihren Zündschlüssel verloren habe“.

Als ich am Abend im Bett lag, hörte ich vom Haus her Elizabeth’s Stimme in der Dunkelheit. Wo hast du den Zündschlüssel zu Henry’s Auto denn verloren?“ – „In meiner Hosentasche“, sagte Jim Bob trocken. „Hier fährt keiner weg, wenn ich das nicht will“.

Elizabeth: „Dann hätten wir ja gar nicht so auf Henry einzureden brauchen“. Walton sen. energisch: „Gute Nacht allerseits!“

Ulrich Jaschek, 21. Februar 2005