Briefe aus Waltons Mountain - Teil 5


Lesen! Ihr Lieben, ich habe Zeit zum Lesen! Dass heißt, die Zeit zum Lesen wurde mir befohlen. Diese Mary Ellen beobachtet mich, wie der Storch einen Frosch! Sie lässt sich nicht davon abbringen, sich weiter um meine Gesundheit und das, was sich noch nicht ganz wieder davon eingestellt hat, zu kümmern.

Mit einem Rückfall nach einer Lungenentzündung sei immer zu rechnen, wenn man sich nicht noch einige Tage schone, sagt sie. Sie verfällt dann in so eine belehrende Krankenschwester-Sprache: So ein Rückfall wäre „unangenehmer“, als die „ursprüngliche Erkrankung“. Dabei huste ich so gut wie gar nicht mehr – nur vorgestern Morgen habe ich mich beim Frühstück verschluckt und gehustet. Sofort legte sie ihre Stirn in Falten und hatte so ein alarmierendes Flackern in den Augen.

Jedenfalls hat sie mir in den vergangenen zwei Wochen lediglich erlaubt, ein bisschen spazieren gehen. Ich und spazieren gehen – könnt Ihr Euch das vorstellen?

Zuerst bin ich hier allein ein bisschen herumgestrolcht, und an den Nachmittagen leistete mir Elizabeth Gesellschaft. Sie kennt hier jeden Kieselstein, zeigt mir seltene und bunte Vögel, die ich noch nie gesehen habe und manchmal gehen wir nur schweigend an dem Bach entlang, dessen glitzerndes Wasser nicht nur appetitanregend plätschert, sondern auch noch wunderbar erfrischend schmeckt. Sie erzählt mir viel von der Familie, von der Kindheit und von ihrem Bruder, diesem John-Boy. Ihr seht also, ich bin hier aufgehoben, wie bei einer Kur und die Gastfreundschaft ist unbeschreiblich.

Die Mahlzeiten nehmen wir alle gemeinsam an einem langen Tisch in der Küche ein. Und weil jeder seinen Stammplatz hat, wurde mir von Mrs. Walton auch einer zugewiesen. Nun sitze ich also zwischen Ben und Jim-Bob. Das Verhältnis zu Ben ist immer noch seltsam gespannt. Er ist freundlich, aber trotzdem kalt-reserviert, also ganz anders als alle anderen. Ich habe keine Ahnung warum, mag ihn aber nicht fragen.

Gegenüber habe ich Mary Ellen, Erin und Jason im Blick. Stellt Euch vor, hier betet man vor dem Essen. Alle fassen sich bei der Hand und Mr. Walton bestimmt, welches Familienmitglied ein freies Gebet zu sprechen hat. Ich meine, kein auswendig gelerntes Gebet, sondern so eines mit eigenen Worten, das sich auf die Erlebnisse des Tages bezieht.

Neulich haben sie Gott sogar für meine Genesung gedankt: „Herr, wir danken Dir, dass du unseren Gast, den du unserer Pflege anvertraut hast, gesund gemacht hast“.

Ich weiß den Text, den Erin betete, deswegen so genau, weil ich ihn mir sofort am Tisch aufgeschrieben habe. Darüber haben dann alle gelacht. Hier gehören alle zur baptistischen Kirche. Welcher Konfession ich angehöre, habe ich vorsichtshalber noch nicht erwähnt. Werde ich auch nicht, wenn mich niemand fragt.

Ihr merkt, ich fühle mich unbeschreiblich wohl.

Trotzdem: Bald muss ich hier etwas arbeiten.

Deswegen habe ich auch schon Mr. Walton in seinem Sägewerk besucht. Ich liebe das beinahe mit den Händen greifbare Aroma frisch geschnittenen Holzes, wenn es sich mit der würzigen Luft hier vermischt. Der Platz für dieses Werk (sie nennen es Sägemühle, ich habe aber keine Mühle entdeckt) ist nicht besser zu wählen, denn der Rohstoff wächst sozusagen nur ein paar Schritte weiter.

„Holz ist das älteste Baumaterial, das der Mensch benutzt“, rief mir Mr. Walton zu, während sich das Sägeblatt unter seinem sanften Druck langsam durch einen dicken Baumstamm fraß. „Holz wächst auf unserem Berg immer nach“, fügte er hinzu, wischte sich mit dem Handrücken den Schweiß aus der Stirn und deutete durch das offene Tor. „Wohnen Sie in South Bend auch in einem Holzhaus?“ Ich erzählte ihm von meinem kleinen Appartement im siebenten Stock des grauen Miethauses in South Bend gegenüber der Redaktion des „Observer“.

„Ich könnte in einem Steinhaus nicht leben“, sagte er, schüttelte den Kopf und griff nach einem Stück Langholz. Instinktiv griff ich zu, um ihm zu helfen.

„Danke“, wehrte er ab und lächelte, „aber wenn Mary Ellen sieht, was Sie hier tun, bekomme ich Ärger mit ihr. Warten Sie noch eine Woche ab und wenn Sie wollen, zeige ich Ihnen, wie Sie Ben und mir hier helfen können.“

Bei Bens Namen zucke es unmerklich in meinem Gesicht. Als ich zustimmte, schwoll ein fernes Knattern zu einem heftigen Dröhnen an. Mr. Walton spähte aus dem Tor und winkte. „Hallo Ike, was gibt’s denn?“ Der Kolonialwarenhändler saß mit Schürze und Fliege auf seinem Motorrad und winkte mit einem Blatt Papier. „Ihr habt Nachricht von John-Boy“, rief er, und schwenkte elegant vor das Hallentor, stellte den Motor ab und überreichte Mr. Walton ein Telegramm. Mrs. Walton hatte das Motorrad gehört und trat aus dem Haus. „Nachrichten von John-Boy“, rief ihr Mann ihr zu. Er strich den zusammengefalteten Papierbogen glatt, griff nach seiner Brille, las und reichte das Papier freudestrahlend an seine Frau weiter, die inzwischen neben ihm stand und sich die Hände in der Schürze abtrocknete: „John-Boy besucht uns!“

Ike Godsey, der Gemischtwarenhändler des Ortes drückte mir die Hand. „Die alten Lady’s fragen mich jeden Tag, wie es Ihnen geht“, sagte er. „Ich soll Ihnen sagen, dass Sie sie besuchen sollen. Ihr Rezept sei auch als Vorbeugung für die nächste Lungenentzündung geeignet.“ Wir lachten. Ich trug ihm herzliche Grüße für die Damen auf und dass mich mein nächster Spaziergang in den Ort führen werde. „Sie müssen Cora Beth und mich auch besuchen“, lud Ike mich ein. Cora Beth möchte sich mit Ihnen über Kultur unterhalten, seit sie weiß, dass Sie Journalist in dem Fach sind!“ Ich musste wieder lachen und sagte auch ihm gern zu.

Inzwischen hatten die Eltern das Ankunftsdatum im Telegramm wahrgenommen: Er kommt schon morgen früh“ stellte Mr. Walton fest und drückte seine Frau an sich.

Mir wurde ein bisschen unwohl, denn was würde der älteste Sohn und von allen bewunderte große Bruder wohl sagen, wenn er daheim einen Fremden entdeckt, der auch noch in seinen Hosen, mit seinen Hosenträgern und seinem gestreiften Hemd herumläuft. Ich behielt ich das lieber für mich und zog mich, Entschuldigungen murmelnd, in mein kleines Gästehaus zurück. Lieber wollte ich etwas in seinen Büchern lesen und blättern, um mich vorzubereiten. Ruhe bekam ich trotzdem nicht, im Gegenteil, je mehr ich von ihm las, desto nervöser wurde ich.

Beim Mittagessen redeten alle bei Tisch aufgeregt über John-Boy. Ich blieb lieber schweigsam und löffelte Mrs. Waltons wunderbare Gemüsesuppe. Als ich danach zu meinem Häuschen zurücktrottete, fühlte ich, dass mir jemand folgte. „Machen Sie sich keine Sorgen, Henry“, sagte Mary Ellen ungewohnt sanft und griff nach meiner Hand. „Sie werden sich mit meinem Bruder sehr gut verstehen“.

„Ich liege in seinem Bett“, gab ich zurück „und schlafe neben seiner geliebten alten Zeitungspresse“. Ich werde demnächst weiterfahren. Ich will doch nach Arizona.

„Er wird im Haus schlafen und nach ein paar Tagen nach New York zurückkehren“, beruhigte sie mich, ohne meine Hand loszulassen. „Ruhen Sie sich noch ein bisschen aus“ – weiterfahren können Sie immer noch. Hier vertreibt Sie niemand und meine Familie freut sich, dass Sie hier sind.

Ich holte das Buch aus meinem Häuschen und setzte mich in die Schaukel auf der Veranda vor dem Wohnhaus. Alle waren nach dem Mittagessen schon wieder an ihre Arbeit gegangen. Metallisches Klopfen kündete von Reparaturversuchen, die Jim Bob an seinem alten Roadster durchführte, in der Mühle kreischte periodisch das Sägeblatt und in der Küche half Erin ihrer Mutter beim Spülen des Geschirrs. Trotz der Geräuschkulisse lag ein stiller Frieden über Haus und Hof.

Ich wiegte mich leicht in der Schaukel und war in John-Boys Beschreibungen über die Berge versunken. Ich blickte wie zum Vergleich immer wieder in die Ferne, als ich spürte, wie jemand von hinten eine Hand auf meine rechte Schulter legte.

„Hallo Jason“, sagte ich, ohne mich umzuschauen. „Würde ich das Buch Deines Bruders daheim in South Bend lesen, könnte ich trotzdem Eure Luft atmen und die blaue Bergkette genau vor mir sehen“.

„Das freut mich“, sagte eine unbekannte Stimme. Ich zuckte zusammen und fuhr herum. Bevor ich zu dem unbekannten jungen Mann, der statt Jason hinter mich getreten war, etwas sagen konnte, streckte er mir offen lächelnd die Hand hin: „Ich bin John Walton jun. Mein Bus fuhr früher. Elizabeth hat mir über sie geschrieben. Schön, dass Sie hier sind“. Ich habe mich auf Sie gefreut!“

Ulrich Jaschek, 28. Januar 2005