Briefe aus Waltons Mountain - Teil 4


Meine Hosen und Jacken passen nicht mehr! Alles scheint viel zu groß geworden. Stellt Euch vor, in den Wochen meiner Krankheit ist eingetreten, was ich während der ganzen Jahre daheim in South Bend nicht geschafft hab: Ich bin dünn geworden. Nein, dürr ist das bessere Wort.

Mrs. Walton hält mich für „abgemagert“ und will mich mit kräftigen Brühen und fetter Ziegenmilch „wieder auf die Beine stellen“.

Ich habe hier keine Waage, aber könnt Ihr Euch vorstellen, dass ich meine Hose mit einem Bindfaden in der Taille festbinden muss, damit sie wenigstens etwas Halt hat? Ihr hättet Elizabeth darüber lachen hören sollen, als ich das erste Mal nach meiner Krankheit dieses kleine Gästehäuschen, das für alle hier nur „der Schuppen“ ist, endlich verlassen durfte.

Ich werde ihn nie vergessen, diesen ersten Atemzug, nachdem ich die Tür geöffnet hatte und herausgetreten war. Alle Köstlichkeit der duftenden Natur habe ich so tief in mich eingeatmet, bis ich fast wieder rückwärts getaumelt wäre. Aber ich wollte dieses Aroma aus würziger Bergluft, frisch bearbeitetem Holz und in der Vormittagssonne aufsteigender Feuchtigkeit so lange in mir behalten, wie es ging. Ich dachte im ersten Moment gar nicht daran, dass es so viel von dieser Aroma-Luft gibt, dass sie unendlich lange für alle reicht. Ein bisschen unsicher und ständig den Sitz meiner Hose korrigierend, stolzierte ich noch immer ein bisschen unsicher auf das Wohnhaus zu. Als ich die Haustür erreicht hatte, zögerte ich einen Moment, holte tief Luft und trat ein.

Die Familie hatte soeben ihr Frühstück beendet und alle waren im Aufbruch. Mr. Walton bemerkte mich zuerst und kam mit herzlich lachend und mit ausgestreckter Hand auf mich zu. „Kommen Sie herein“, rief er mir zu, „es sind noch Eier und Speck da, setzen Sie sich.“ Er drehte sich zu Mrs. Walton, die nun auch auf mich zukam. „Olivia, der junge Mann braucht einen Kaffee“. Nun kamen auch die jungen Waltons auf mich zu, alle sprachen durcheinander, klopften mir auf die Schulter und ich verstand nur noch Wortfetzen wie „na endlich“ und „jetzt brauchen Sie aber viel zu essen“ und „setzen Sie sich doch endlich“. Ich kann Euch sagen, so einen Sturm der Herzlichkeit habt Ihr sicher noch nie erlebt. Und: Ihr glaubt nicht, wie gut so was tut. Ich hätte jeden einzelnen in den Arm nehmen und drücken wollen vor Dankbarkeit. Aber schon griffen alle nach ihrer Tagesverpflegung, die auf dem langen Esstisch bereit lag und machten sich auf den Weg zu Arbeit, Schule und den Wegen, die der Tagesablauf für sie bereit hielt.

Nur Mary Ellen setzte sich wieder an den Tisch, nippte an ihrem Kaffee und schaute mich gerunzelter Stirm an. „Wo haben Sie denn diesen schrecklichen Bindfaden gefunden“, fragte sie. So könne ich hier unmöglich herumlaufen.

Ihr erinnert Euch an die Hose, die ich meistens trug, meine Lieblingshose, die mit dem Loch in der linken Hosentasche, diese Bequeme, an der ich so hänge. Nun hing sie kaum noch an mir. „Ich sehe mal in John Boys Schrank nach etwas Brauchbarem“ sagte Mrs. Walton, als sie eine riesige Portion Rührei und Speck vor mir absetzte. Ich hatte schon völlig vergessen, wie Eier und Speck duften, geschweige denn wie sie schmecken. Um es vorweg zu nehmen: Sie waren wunderbar – nur mein Magen war durch die lange Krankheit derart von reichlichem Essen entwöhnt, dass ich schon nach sechs oder sieben Bissen einfach nicht mehr konnte. Ich wollte meine Gastgeber nicht beleidigen, aber Mrs. Walton bemerkte wohl meinen Zustand an meinem Gesicht und nahm mir lächelnd den Teller fort.

„Ich mache jetzt meine Patiententour durch die Berge“, sagte Mary Ellen, stand auf, griff zu ihrer Tasche und streifte sich einen Mantel über. „Ich seh’ Sie heute Abend - aber ordentlich angezogen“, sagte sie noch, streifte zufällig mit ihrem Handrücken leicht meinen rechten Arm und schon fiel die Tür hinter ihr ins Schloss. „Kommen Sie mit in John Boy’s Zimmer, da werden wir schon etwas für Sie finden“, sagte Mrs. Walton, die hinter mich getreten war, während ich Mary Ellen hinterher schaute, die mit festem Schritt zum Stall ging, um ihr Pferd zu satteln.

Ich wandte mich um und folgte Mrs. Walton über die schmale Treppe in die obere Etage. „Hier hat unser Sohn zunächst gewohnt“, erklärte Mrs. Walton und öffnete eine Zimmertür. „Später ist er in den Schuppen gezogen, um dort in Ruhe arbeiten zu können“. Das Fenster bestand aus einer Gaube, in der ein Schreibtisch stand von dem man den Hof mühelos überschauen konnte und am Horizont die sanften Bergketten im Blick hatte.

„Hier hat unser Sohn seine ersten Geschichten und Bücher geschrieben“, sagte sie, öffnete einen Schrank und förderte eine Hose mit Hosenträgern und ein gestreiftes Hemd hervor. „Probieren Sie es mal an, ich lasse Sie erstmal allein“, sagte sie und legte die Sachen auf das Bett. „Wenn sie passen, behalten Sie sie einfach gleich an und geben mir Ihre Sachen zum Waschen“.

Gedankenverloren streifte ich mir mein Hemd ab, löste den Bindfaden und schlüpfte in die bereitgelegte Kleidung. Als kleiner Junge habe ich Hosen mit Hosenträgern angehabt, seitdem nicht mehr. Aber selbst die Hosen des Juniors waren mir noch ein wenig weit. Und so empfand ich die Hosenträger nicht als unangenehm, sondern sehr praktisch.

Als ich die Treppe herunterstieg, betrachtete mich Mrs. Walton. „Das ist ja fast so, als käme John Boy herunter“, sagte sie und lachte. „Machen Sie einen Spaziergang, schauen Sie sich die Gegend an und erholen Sie sich noch etwas“, fügte sie hinzu. Ich werde Sie rufen, wenn wir zu Mittag essen. Ich trat vor das Haus und fühlte eine Mischung aus Ruhe und Aufregung. Ich war aufgenommen worden, also gehörte ich zur Familie, trug die Sachen des größten Sohnes und sollte mir keine Sorgen machen. Trotzdem: Ich musste ja weiter. Mein Urlaub war schon seit Wochen vorbei, ich hätte längst wieder an meinem Schreibtisch bei Euch sitzen müssen.

Statt dessen war ich hier und wurde gepflegt, wie ein kranker Spatz.

Ich lenkte meine Schritte zum Schuppen, ließ mich auf der Bank unter dem Fenster nieder, schloss die Augen und ließ mich von der Vorfrühlingssonne wärmen. Plötzlich ritt Mary Ellen wie aus dem Nichts lautlos winkend auf mich zu, in das sanfte Rauschen des Windes mischten sich die Geräusche von Schreibmaschinengeklapper und Autoverkehr, um plötzlich in dunklen Schatten zu versinken. Ich schlief.

Ulrich Jaschek, 19. Januar 2005