Briefe aus Waltons Mountain - Teil 3


An einem Tag einer langen schweren Krankheit merkst du es: Plötzlich strahlt die Sonne wärmer ins Zimmer, die Farben rundherum wirken kräftiger und die Menschen um dich herum scheinen freundlicher und ihr Lachen ermutigender. Irgendwie spürst du, dass du es geschafft hast, die Krankheit verliert allmählich ihren Schrecken und Dein Hoffen wird Gewissheit: du wirst gesund.

So ging es mir im Januar. An welchem Tag? Keine Ahnung.
Ich hatte nicht einmal bemerkt, dass Weihnachten gefeiert wurde im Hause Walton, die große ausgelassene Party zum Jahreswechsel rauschte an meinen Ohren so lautlos vorbei, wie eine Wolke am blauen Sommerhimmel und natürlich konnte ich auch nicht wissen - dass ich, der unbekannte Kranke – nicht nur Dauerthema bei meiner Gastfamilie war, sondern dass der ganze Ortes Anteil an meinem gesundheitlichen Schicksal nahm. Diese junge Krankenschwester Mary Ellen kümmerte sich unermüdlich um mich. Wenn ich einmal aus meinem Fieber erwachte, musste ich nicht lange auf sie warten. Ich glaubte ernsthaft, ihr einziger Patient zu sein. Keineswegs. Per Pferd sei sie zwischendurch unterwegs zu anderen Kranken auf abgelegenen Farmen und Wohnhäusern gewesen, erzählte sie mir, als ich endlich wieder aufrecht im Bett sitzen und essen konnte.

An diesem Tag im Januar aber fühlte ich mich wunderbar leicht, sorgen- und fieberfrei. Außerdem ist es ein wundervolles Gefühl, keine Schmerzen mehr beim Husten zu haben. Der Druck im Kopf war auch nicht mehr zu spüren. Ich schaute mich um und langsam wurde mir klar, dass ich Wochen hilflos in einem fremden Bett, bei fremden Menschen verbracht habe.

Könnt Ihr das nachvollziehen? Ein Gefühl grenzenloser Peinlichkeit stieg in mir auf. Wie sollte ich meine Gegenwart erklären, was würden Behandlung und Pflege kosten, wo war mein Auto? Wer hatte meine Wäsche gewaschen? Wann konnte ich endlich weiter?

In diese Grübelei mischte sich vorsichtiges Klopfen an der Tür, das ich zunächst gar nicht wahrnahm. Aber ohne meine Antwort abzuwarten, steckte ein etwa 12jähriges Mädchen mit roten Haaren den Kopf herein. „Mary Ellen sagte, dass Sie nicht mehr ansteckend sind“, sagte sie und trat ein. „Störe ich? Ich heiße Elizabeth“ „Ach was“, erwiderte ich und streckte die Hand nach ihr aus. „Vielleicht kannst du mir erklären, wo ich hier bin?“ „Viel Gepäck haben Sie aber nicht“, sagte sie, ohne auf meine Frage einzugehen und sah sich neugierig um. „Wohin wollten Sie, als Sie bei uns krank wurden?“ Ich erzählte ihr von meiner Urlaubstour, dem Trip von South Bend, Indiana nach New York und der geplanten Weiterfahrt nach Arizona. „Gefällt es Ihnen bei uns?“ forschte sie weiter und deutete auf den Tisch, auf dem ein Gesteck aus Tannenzweigen stand. „Das hab ich für Sie gemacht“. „Ich weiß es nicht“, antwortete ich, setzte mich aufrecht und blickte umher. „Bisher kenne ich ja nur dieses Häuschen, dass ihr Schuppen nennt.“

Das Mädchen trat näher, setzte sich auf die Bettkante und in dem Moment, als sie zu erzählen begann, trat eine schlanke Frau mitleren Alters ein. Sie trug einen Wäschekorb vor sich und lächelte. „Ich bin Mrs. Walton“, sagte sie und hielt mir ihre Hand hin. „Die Mutter von Mary Ellen, ihrer Krankenschwester“, fügte sie erklärend hinzu. „Hier haben Sie frische Bettwäsche und Handtücher. Außerdem gibt’s gleich Mittagessen und ich bringe Ihnen etwas herüber“.

Meine Gastgeber hatten mich sicher gelegentlich durch das Fenster beobachtet und kannten meine Lage. Mir aber war es ausgesprochen unangenehm, einfach im Bett zu liegen und mich von diesen freundlichen Menschen wie selbstverständlich bedienen zu lassen.

Ich schlug meine Bettdecke zurück, schwang mich aus dem Bett und stand auf den Beinen – allerdings nur wenige Sekunden. Sie knickten ein, wie die halbgaren Nudeln in dem chinesischen Restaurant gegenüber unserer Redaktion in South Bend. So landete ich auf meiner Sitzfläche direkt neben dem Bett. Mrs. Walton und Elizabeth eilten sofort zu mir. Ich lag neben dem Bett und richtete mich mit Hilfe der beiden mühsam wieder auf und krabbelte wieder unter die Zudecke.

„Mary Ellen wird sich gleich um Sie kümmern“, sagte Mrs. Walton, als sie mich zudeckte. „Sie brauchen noch ein bisschen Ruhe und gutes Essen“. Zunächst war daran allerdings war nicht zu denken, denn nach und nach kamen immer mehr Familienmitglieder, um nach mir zu sehen. Die Eheleute Walton haben sieben Kinder.

Der älteste Sohn wohnt nicht mehr hier, sondern arbeitet als Schriftsteller in New York, Mary Ellen ist die älteste Tochter und – wie ich von Elizabeth erfahren habe, in einen Arzt verliebt. Eine gute Mischung – ich hatte einmal über eine solche Ehe in unserer Zeitung geschrieben.

Sehr hübsch mit dunklen langen Haaren und verführerisch wirkt ihre Schwester Erin. Sie gibt sich aber sehr zurückhaltend, fast ablehnend. Das Nesthäkchen Elizabeth habe ich schon beschrieben.

Sehr sympatisch ist Jason, der zweitälteste Bruder. Er sei sehr musikalisch, versicherte mir seine kleinste Schwester und er versprach mir lächelnd, Schubert-Lieder auf dem Klavier vorzuspielen, wenn ich endlich wieder aufstehen dürfe. Ich freue mich darauf, denn Musik und Konzerte vermisse ich inzwischen sehr.

Einen ganz anderen Eindruck macht Jasons jüngerer Bruder Ben. Er hat ebenso rote Haare wie Elizabeth. Du kennst das: Die ersten zehn Sekunden entscheiden über die Sympathie. Ich glaube, er mag mich nicht. Er ist sehr kühl und distanziert, gab mir zwar die Hand aber wandte sich gleich wieder ab.

Richtig cool ist aber der jüngste Bruder, James Robert, den alle nur Jim Bob nennen. Er legte mir den Zündschlüssel zu meinem Wagen auf die Bettdecke und murmelte schüchtern, dass er mein Auto wieder in Ordnung gebracht habe. Ich wusste überhaupt nicht, was ich sagen sollte.

Zum Glück kam Mary Ellen dazu und drängte alle energisch aber freundlich aus dem Raum. „Er wird bald gesund sein, aber er braucht noch viel Ruhe“, sagte sie, als sie auch Elizabeth als letzte aus dem Raum schob.

„Nun haben Sie ja fast alle von uns kennengelernt“. Sie lächelte und legte mir ihre kühle Handfläche prüfend auf die Stirn. Ich sehe sie gern lächeln, dachte ich bei mir und biss mir auf die Lippen. „Wieso fast?“ „John-Boy“ fehlt noch und unser Vater“, erklärte sie und zog mir die Bettdecke weg, um einen frischen Bezug aufzuziehen.

„John-Boy? Ein merkwürdiger Name“, sagte ich.
„Wir nennen ihn so“, sagte sie schroff und ihr freundliches Lächeln war einem gefährlichen Blitzen in ihren Augen gewichen. „Unser Vater heißt John“, erklärte sie, während sie den Bezug über das Kissen schüttelte. „Weil sein ältester Sohn seinen Namen erbte, musste zur besseren Unterscheidung beim Rufen ein sinnvoller Zusatz her. „Und den nennen Sie jetzt merkwürdig.“

Als sie aber mein echtes Bemühen bemerkte, mich durch freundliche Konversation aus der Affäre zu ziehen, klang sie wieder versöhnlicher.

„Ich habe Ihnen ein paar Bücher über die Gegend mitgebracht, die er geschrieben hat“, sagte sie und deutete auf einen Bücherstapel auf dem Tisch. „Und dort liegen Exemplare der Zeitung, die er hier geschrieben und gedruckt hat. Lesen Sie! Und wenn Sie wieder auf den Beinen sind, ist Ihnen die Gegend schon vertraut und Sie können sie leichter erkunden“. Sie wies aus dem Fenster auf sanfte schneebedeckte Höhenzüge. „Bald wird Frühling sein“, sprach sie zum Fenster gewandt – „und ich bin sicher, Sie werden dieses Land lieben“.

Ulrich Jaschek, 9. Januar 2005