Briefe aus Waltons Mountain - Teil 7


Jungs, danke für Euren Anruf bei meinem Freund Ike! Ich bin ganz gerührt, dass Ihr Euch Sorgen um mich gemacht habt, weil ich so lange nichts von mir habe hören lassen. Ike hat Euch ja schon gesagt, dass bei mir alles ok ist. Nur: Ich bin einfach nicht zum Schreiben gekommen. Hier auf dem Land ist alles so anders, als bei Euch in South Bend und in der Redaktion. Ich arbeite in diesem Sägewerk und hätte mir schon wer weiß wie oft die Finger abgeschnitten, wenn Mr. Walton nicht auf mich aufgepasst hätte. Nun haben sie mich zu Hilfsarbeiten eingesetzt. Ich leime Hölzer zusammen, räume die Werkstatt auf, fege den Hof und spüle Geschirr. Die haben hier schon eingesehen, dass so ein Stadtmensch und Schreiber wie ich schon seine Finger braucht, um die Tasten der Schreibmaschine bedienen zu können.

Und stellt Euch vor, die Schreibmaschine brauche ich jetzt sogar wieder. Das kam so: Ich habe Mary Ellen nach Richmond ins Theater eingeladen. Es wurde ein Musical von George Gershwin gegeben, über dessen Kompositionen ich doch auch in South Bend schon geschrieben hatte.

Nun ist es hier nicht üblich, einfach mal so ins Theater nach Richmond zu fahren. Mary Ellen zierte sich erst, weil sie nichts anzuziehen hätte, wie sie sagte. Ihr hättet Mrs. Walton erleben müssen. Sie schaute ihre Tochter nur prüfend an, verschwand auf dem Dachboden und kam kurze Zeit mit einem Kleid wieder herunter. "Ein paar Änderungen", sagte sie und ließ den Stoff durch die Hände gleiten, "und Du bist für das Theater in Richmond genau richtig angezogen". Ich bin immer noch sehr mager und so hat mir Walton jun. einen seiner Anzüge geliehen. Nur seine Fliege habe ich nicht umgebunden; gut dass ich noch meine alte gestreifte Krawatte dabei hatte. Allerdings hat Mary Ellen darauf bestanden, dass ich den oberen Hemdenknopf schließe und die Krawatte ganz nach oben ziehe. Ihr wisst, wie ich das hasse. Aber sie sah nun in dem geänderten und modernisierten Kleid wirklich sehr attraktiv und fraulich aus - da habe ich mich eben gefügt. Wir sind gut nach Richmond gekommen, hatten prima Plätze und die Musik war schwungvoll und sehr hörenswert interpretiert.

Plötzlich kam in der ersten Reihe Unruhe auf, die so heftig wurde, dass die Musik verstummte. Lautstark wurde nach einem Arzt gerufen. Mary Ellen (ich hatte Euch schon geschrieben, das Sie mit Herz und Seele Krankenschwester ist) sprang sofort auf und meine Berufsneugierde erwachte in mir. Also folgte ich ihr.

Ein älterer Herr war von einem der Theatersessel in der ersten Reihe gerutscht und presste sich die Hand an die Brust. Schweißperlen standen auf seiner Stirn und er atmete schwer. Neben ihm lag ein kleiner Schreibblock und ein Bleistift. Mary Ellen beugte sich zu ihm herunter. "Herzinfarkt", sagte sie, während sich eine ältere Frau zu uns drängelte. "Ich bin Ärztin", stellte sie sich vor und beugte sich zu dem Patienten, der nach seinem Block und Bleistift griff. "Lassen Sie, es geht schon wieder", sagte er und wollte sich aufrichten. Inzwischen hatte jemand wohl auch schon die Ambulanz gerufen, denn Sanitäter hatten schon eine Trage im Hauptgang abgestellt. "Ich bin der Musikkritiker", keuchte der Patient, "ich habe hier einen Job zu erledigen!" Jungs, bei so einer Berufsauffassung neigt man sich doch wohl in Ehrfurcht, oder? Ich habe mich dem japsenden Kollegen dann kurz vorgestellt, gesagt, dass ich ihn gerne vertreten würde und wohin ich den Text bringen sollte. Ihr hättet das Gesicht von dem Kollegen sehen sollen. Trotz seiner Schmerzen lachte er einmal laut auf, gab mir seinen Block und Bleistift und bat mich, den Text am nächsten Morgen beim Richmond Times-Dispatch abzugeben und ihn im Krankenhaus zu besuchen. Dann trugen ihn die Sanitäter nach draußen.

Die Aufregung hatte sich inzwischen gelegt und das Publikum inzwischen wieder Platz genommen. Ich wandte mich zu Mary Ellen um, die mich sprachlos anstarrte. "Du hast einen Job", stammelte sie überwältigt, "du hast so ganz einfach nebenbei einen Job bekommen" und ließ sich auf dem frei gewordenen Platz des Kritikers nieder. "Willkommen als Begleiterin des neuen Konzertkritikers", entgegnete ich und setzte mich neben sie. Unsere Nachbarn schauten zwar zunächst ein bisschen skeptisch, aber als der Dirigent den Taktstock hob und die Musik wieder einsetzte, hatten sich wieder alle beruhigt.

Um es kurz zu machen: Das Konzert war wunderschön und beim Verlassen des Theaters griff ich nach Mary Ellens Hand, um sie in dem Gedränge nicht zu verlieren. Es passierte, womit ich im Traum nicht gerechnet hätte: Sie blieb stehen, zog mich zu sich heran, hauchte mir einen Kuss auf die Wange und flüsterte: "Ich freue mich so für Dich, Henry!". Mir wurde heiß und kalt, denn so warm und leidenschaftlich kannte ich diese sonst eher reservierte und kühle Frau nicht. "Aber lass uns kurz zum Krankenhaus fahren und nachfragen, wie es dem Herrn geht", schlug sie vor, als wir endlich mein Auto erreicht hatten. Ich warf ihr den Schlüssel zu. "Du kennst den Weg besser als ich", sagte ich.

"Sie können nicht zu ihm", wehrte die Krankenschwester vor der Intensivstation mir gegenüber ab, nachdem Mary Ellen uns bekannt gemacht hatte. Ihr müsst wissen, dass Mary Ellen hier gearbeitet hat, bevor sie die Krankenpflege in den Bergen übernommen hatte. "Es geht ihm gar nicht gut", fügte die Schwester hinzu und vertröstete uns auf den nächsten Morgen. Einerseits war ich bedrückt, andererseits konnte ich es kaum abwarten, mich in meinem Schuppen an die Schreibmaschine zu setzen und endlich meine erste Rezension nach der langen Zeit der Krankheit und des Leerlaufs zu schreiben. In Waltons Mountains schliefen alle längst, als wir eintrafen. Ich schaltete den Motor aus und verharrte einen Moment. Mary Ellen schaute mich an und lächelte. "Ich habe Dich noch nie so glücklich gesehen, wie in dem Moment, als Dir der kranke Mann sagte, dass Du seine Geschichte schreiben sollst", sagte sie uns strich mir über meine Wange. "Ich bin erst glücklich, wenn sie veröffentlicht ist", sagte ich, griff ihre Hand und küsste die Innenfläche. "Du hast mir Glück gebracht", fügte ich hinzu, "schon zum zweiten Mal". Sanft zog sie die Hand zurück und öffnete den Wagenschlag. "Ich werde jetzt schlafen gehen", sagte sie bestimmt, "Mutter wird sich schon Sorgen machen". Ich stieg ebenfalls aus und fühlte mich seltsam leicht. "Gute Nacht, flüsterte ich ihr zu", gute Nacht, du liebe Liebe". In meinem Schuppen zog ich mir die Jacke aus, hängte sie über den Stuhl, öffnete den Kragenknopf und lockerte den Krawattenknoten. Dann ließ ich mich vor dem Bett auf die Knie fallen, und zog die Schreibmaschine darunter hervor. Vorsichtig stellte ich sie auf den Tisch, öffnete die Haube, griff nach einem Bogen Papier zog mir den Stuhl heran, spannte das Papier ein und begann zu tippen.

Ich war gerade fertig, als es an der Tür klopfte. Augenblicklich stieg mein Blutdruck. ‚Mary Ellen', dachte ich, ‚ich kann ihr die Geschichte gleich vorlesen.' Ich stürzte zur Tür, riss sie auf und - blickte in das Gesicht von Walton jun. "Ich habe Sie noch schreiben gehört", sagte er und blickte mich gespannt an. "Arbeiten Sie endlich an Ihrem Buch?" Ich fasste mich allmählich und hoffte, dass er mir meine Enttäuschung nicht ansah. "Nein", antwortete ich und erzählte ihm von der unverhofften Begegnung. "Das muss Mr. Bremer gewesen sein", sagte Walton jun. betroffen. "Ich kenne ihn, weil ich einige Male für den Times Dispatch geschrieben habe. Aber für Sie freue ich mich." Ich reichte ihm mein Manuskript. "Lesen Sie", forderte ich ihn auf. Er winkte ab. "Nein, das will ich erst lesen, wenn es in der Zeitung steht", sagte er und erhob sich. "Wenn ich darf, begleite ich Sie gerne morgen nach Richmond", fügte er hinzu, "dann kann ich Mr. Bremer besuchen und Sie geben ihre Geschichte in der Redaktion ab". Es wurde schon hell, als ich mich glücklich und müde in meinem Bett ausstreckte und sich meine Gedanken um Mary Ellen und Mr. Bremer immer schneller drehten und schließlich in einen traumlosen Schlaf mündeten.

Am nächsten Morgen fuhren wir bereits kurz nach Sonnenaufgang los. Der junge Walton hatte mir angeboten, mit seinem Auto zu fahren. Es war einer dieser wunderbar-romantischen Maimorgen, die in Waltons Mountain so intensiv nach Blumen, Kräutern und frischem Holz duften. "Haben Sie eine Vorstellung davon, warum Ihr Bruder Ben mich nicht mag?" fragte ich den jungen Walton unvermittelt, als wir die leichte Kurve kurz vor Rockfish durchfuhren. "Er ist manchmal zurückhaltend", erwiderte der junge Walton. Und dann erzählte er mir, dass der 1918 in Europa im Krieg gegen Deutschland gefallene Bruder seines Vaters ebenfalls Ben hieß. "Und so steht Ben allem was deutsch ist ablehnend gegenüber", schloss er. Ich hatte schweigend zugehört und mir vorgenommen, bei nächster Gelegenheit mit Ben über meine deutsche Abstammung zu reden.

In Richmond setzte mich der junge Walton vor dem Verlagsgebäude des Richmond Times-Dispatch ab. Ich fragte mich zur Redaktion durch, um meinen Artikel dem zuständigen Redakteur zu übergeben und zu erklären, warum ich ihn geschrieben hatte. Eine freundliche dralle Sekretärin meldete mich bei einem Charles Miller an, der mich eine halbe Stunde warten ließ. Als ich dann endlich in sein Zimmer geführt wurde, räkelte er sich hinter seinem schweren Schreibtisch. Ich schätzte ihn auf etwa 50 Jahre, er rieb sich sein unrasiertes Kinn, sein Haar wirkte dünn und schütter. Die Krawatte hing ungebunden an seinem Hals, die Weste stand offen und das weiße Hemd war durchgeschwitzt. Er richtete sich auf, gab mir die über dem Schreibtisch die Hand und begrüßte mich kühl. Ich setzte mich unaufgefordert vor seinen Schreibtisch, holte mein Manuskript aus der Tasche, legte es vor ihn und erklärte die Situation. Immerhin schien er nicht unbeeindruckt, reagierte aber gereizt, als ich ihm erzählte, bisher beim South Bend Observer geschrieben zu haben. "Also, Mister Yankee-Decker", sagte er gedehnt, lehnte sich zurück und legte die Füße auf seinen Schreibtisch, "Sie wollen also für die Südstaaten-Hauptstadt schreiben, wie?" Ich fühlte, wie mir heiß wurde. Mit so einer Wendung hatte ich nicht gerechnet. Außerdem begann ich zu bereuen, überhaupt hergekommen zu sein. "Mr. Miller", sagte ich und griff nach meinem Manuskript, das noch vor ihm lag. "Der amerikanische Bürgerkrieg liegt lange Jahre zurück. Ich habe ihn ebenso wenig erlebt, wie Sie. Aber wenn Sie auf meine Mitarbeit deswegen verzichten wollen, ist das Ihr gutes Recht. Ich bin mit meinen Eltern aus Deutschland nach Amerika eingewandert, als ich fünf Jahre alt war. Ich kenne die USA nur als einheitliche Nation und habe sie so als meine Heimat lieben gelernt. Und so wird es bleiben. Guten Tag". Ich wandte mich zum Gehen und knüllte mein Manuskript zusammen.

"Hey, German-Yankee, warten Sie", tönte Miller hinter mir, als ich bereits die Tür geöffnet hatte. "Geben Sie mir Ihr Manuskript! Yankees wie Sie können wir auch in Richmond gut gebrauchen!" Ich drehte mich unsicher um und sah, dass er mir mit einem Blatt Papier zuwedelte. "Hier, Ihre Terminliste, wenn Sie schreiben wollen". Ich überflog sie wortlos. Konzerte und Theatervorstellungen, die eigentlich Mr. Bremer hätte besuchen sollen. "Willkommen im Team, Yankee", bekräftigte Miller und hielt mir seine Hand hin. "Schreiben Sie daheim und schicken uns Ihre Manuskripte mit der Post. Haben Sie ein Telefon?" Ich nannte ihm Ikes Nummer. "Nichts für ungut, Yankee", sagte Miller und drückte meine Hand. "Auf gute Zusammenarbeit". Dann hielt er mir die Tür auf, dirigierte mich mit sanftem Druck zu der drallen Sekretärin und stellte mich ihr als neuen Mitarbeiter der Kulturredaktion vor. "Übermorgen haben Sie Ihre ersten Termine", erinnerte sie mich. "Und schicken Sie Ihre Artikel pünktlich. Mr. Miller wird sonst ungehalten". "Keine Sorge", gab ich zurück. "Wir aus dem Norden sind für unsere Zuverlässigkeit bekannt".

Ich stiegt die Treppen hinunter und fühlte mich seltsam leicht. Endlich hatte ich einen Job und konnte jetzt ernsthaft in das Schreibmaschinenkonzert mit dem jungen Walton einstimmen. Auf der Straße sah ich, wie er sein Auto um die Kurve steuerte, um mich einsteigen zu lassen. "Mr. Bremer geht es unverändert schlecht", sagte er "aber er lässt Sie grüßen". Ich erzählte strahlend von meinem Gespräch mit Mr. Miller. "Er hat Sie provoziert und getestet", sagte der junge Walton und grinste. "Gratuliere, dass Sie bestanden haben."

Auf dem Weg nach Waltons Mountain hielten wir noch kurz bei Ike an und kauften ein paar Flaschen Sekt. Ich freute mich darauf, meine gute neue Nachricht der Familie und vor allem Mary Ellen zu verkünden. Als wir eintrafen, saßen schon alle bei Tisch und blickten uns erwartungsvoll an.

"Er hat einen Job", sagte der junge Walton und schlug mir auf die Schulter. "Übrigens sagen hier alle John-Boy zu mir. Willst Du das nicht auch endlich tun?"

"Ich heiße Heinrich", erwiderte ich feierlich, streckte ihm meine Hand hin und schickte einen Seitenblick zu Ben, der ungerührt seine Suppe löffelte. "Heinrich Decker. Ich bin vor 26 Jahren als fünfjähriger Junge mit meinen Eltern aus Braunschweig erst nach Chicago und dann nach South Bend gezogen. Mein Vater war Deutscher und hieß Kurt, meine Mutter hieß Katarzyna und stammte aus Krakau in Polen. Beide sind inzwischen verstorben. Und ich freue mich, wenn Du jetzt Henry zu mir sagst."

"Das war aber feierlich", bemerkte Walton senior und forderte uns auf, uns zu setzen. Ben warf unwirsch seinen Löffel auf den Tisch, stand auf und wandte sich zum Gehen. "Mit einem Kraut sitze ich nicht bei Tisch!" Das Geräusch seiner heftigen Tritte auf der Treppe durchschlug die entsetzte Stille bei Tisch wie Gewehrschüsse. "Ich rede nachher mit ihm", sagte ich und erzählte von meinem Besuch in Richmond. Alle gratulierten mir durcheinander, Mary Ellen zwinkerte mir lächelnd zu.

Ich zog den Zettel mit den Terminen aus der Innentasche der Jacke. "Guckt mal, ich hab sogar einen Termin in Waltons Mountain", stellte ich überrascht fest. "Eine Mädchentanzgruppe wird im Dew Drop In auftreten!" Erin verschluckte sich vor Aufregung. "Ob ich da vielleicht mitmachen kann? Henry, steht da auch, wann sie hier eintreffen? Ich muss sofort zu Ike. Der weiß das ganz bestimmt! Ich muss unbedingt sofort zu Ike", rief sie. "Erin, du wirst hier zu Ende essen und heute Abend nicht mehr das Haus verlassen", durchschnitt Mrs. Waltons Stimme Erins Aufregung. "Sowohl Dein Vater als auch ich werden nicht dulden, dass du dich mit schamlos gekleideten jungen Frauen auf einer Showbühne präsentierst." Wie zuvor Ben sprang Erin heftig auf und rannte in ihr Zimmer. Mr. Walton zuckte hilflos mit den Schultern. "Lasst sie", sagte er in die Runde gerichtet. "Wir werden morgen über alles reden".

Ulrich Jaschek, 27. Mai 2005