Briefe aus Waltons Mountain - Teil 1
Ich lebe jetzt in einem kleinen Ort in Virginia. Waltons Mountain. Gib Dir keine Mühe, auf vielen Karten ist er nicht eingezeichnet. Hier gibt es eine wunderbare gemütliche kleine Kneipe, aus der ich gerade komme. Das Dew Drop In. Dort bin ich gelegentlich mit Freunden verabredet, gestern gerade mit Ike zu unserem traditionellen Grobie (großes Bier). Wir hatten uns lange nicht gesehen und es gab eine Menge zu erzählen. Ike hat eine etwas dominante Ehefrau namens Cora Beth. Sie mag überhaupt nicht, (kannst Du Dir das vorstellen?!) dass ich mich mit Ike treffe. Warum? Ach, das ist eine lange Geschichte, die begann, als ich mich damals nach Waltons Mountain verirrt hatte. Eigentlich kann man sich hierher nicht verirren, wenn man immer brav auf der Hauptstraße bleibt und nicht abbiegt. Aber Du kennst das: Nachts sind alle Katzen grau und alle Straßen gleich breit.


Und, na ja, weißt Du, eigentlich verdanke ich es Ike und ganz vielen anderen lieben Menschen, dass ich immer noch hier bin. Einmal, weil mich die Lungenentzündung fest im Griff hatte und…


Mach Dir keine Sorgen um mich. Ich verspreche Dir, meine Geschichten in Briefen nach zu erzählen. Wenn ich Zeit habe. Denn ich werde nicht nach South Bend, Indiana zurückkehren. Ich habe hier eine kleine Zeitung wieder zum Leben erweckt und Menschen gefunden, die an Herzensgüte, Hilfsbereitschaft und Freundlichkeit einfach nicht zu übertreffen sind. Ich bin sicher, dass Du den guten alten South-Bend-Observer auch ohne mich und meine Polizei- und Gerichtsreportagen auch mit Charly und Tom weiterschreiben kannst. Grüß sie von mir. Aber nun lass mich der Reihe nach erzählen:…


… es hatte sich natürlich sehr schnell bis zu Ike herumgesprochen, dass ich richtig krank geworden bin nach dieser kalten Nacht im Auto. Aber Du kannst Dir das vielleicht vorstellen: Da rettest Du Dich mit qualmendem Motor mitten in der Nacht in ein bewohntes Nest, in dem gerade mal eine Straßenlaterne vor sich hin funzelt. Da traust Du Dich einfach nicht, irgendwo zu klopfen, um Hilfe zu bekommen. Und so hab ich mich einfach auf die Rückbank meines alten Dodge gelegt und gehofft, dass ich die Zeit bis zum nächsten Morgen mit ein paar Stunden Schlaf über die Runden bekomme. Du kannst es Dir vielleicht vorstellen: Ich war krumm und schief, als ich endlich bei strahlendem Sonnenschein erwachte. Als ich die Augen öffnete, blickte gerade eine Dame mittleren Alters mit verkniffenem Gesichtsausdruck in mein Auto. Sie trug einen merkwürdig-eleganten Hut und wurde merkwürdig verlegen, als ich die Augen aufschlug und sie anschaute. Sie drehte sich heftig weg und wandte sich zu einem Kolonialwaren-Geschäft, in dem sie verschwand. Ich fühlte mich schrecklich. Nach der kalten Nacht schmerzte mein Hals, beim Atmen der Brustkorb und ich hustete. Außerdem war ich hungrig. Also stieg ich aus meinem Auto aus und betrat ebenfalls das Kolonialwaren-Geschäft. Auf mich wirkte die Duftmixtur aus Gummi, Bohnerwachs, Kaffee und Seife irgendwie beruhigend. Und als ich hinter mir die Stimme eines Verkäufers vernahm, fühlte ich mich merkwürdig geborgen. Es war Ike Godsey der Inhaber, der mir sofort irgenwelche Pillen gegen meine Schmerzen anbot und ohne Berechnung einen Kaffee auf den Tresen stellte. Er bediente soeben zwei ältlich wirkende Damen, die sich zwischen zwei Bohnenkonserven nicht entscheiden mochten und gerne auf die Hilfe ihres offenbar längst verstorbenen Vaters zurückgegriffen hätten. So grotesk die Unterhaltung war, so liebevoll kamen mir die alten Damen vor. Ich griff nach dem Kaffee und verschluckte mich prompt daran. Der darauf unvermeidliche Hustenanfall lenkte die Aufmerksamkeit der beiden Frauen auf mich. Ich muss furchtbar ausgesehen haben, aber anstatt vor mir Fremden auf Distanz zu gehen, kamen die Damen freundlich auf mich zu und versprachen mir, mich mit einem „Rezept“ im Nu wieder auf die Beine stellen zu wollen.


Weißt Du, in meiner Lage, ohne Unterkunft und mit defektem Auto und diesem widerlichen Gefühl einer aufsteigenden Influenza erscheinen Dir zwei ältliche Damen wie freundliche Engel. Sie nahmen mich also in die Mitte und spazierten mit mir gemächlich durch den kleinen Ort zu einem prächtigen Haus. Unterwegs erzählten sie mir ohne Unterlass von ihrem „Papa“, seinem ominösen Wunderrezept und dem kleinen Ort, in dem wir uns befanden. Baldwin heißen die beiden Ladys mit Nachnamen, ihre Vornamen sind mir gerade nicht geläufig. In ihrem geräumigen Haus nötigten sie mich in ein Bett, damit ich mich auskuriere. Das war mir nicht recht, denn ich wollte ja unbedingt eine Reportage über den Winter in dem Höhenzug Blue Ridge Mountains schreiben und bald abgeben. Aber auf ihre Art waren die Damen sehr resolut: Kein Widerspruch, ab in ein breites, weiches Daunenbett. Eine der Ladys stand gleich mit einem Glas farbloser Flüssigkeit neben mir, forderte mich auf, aufrecht zu sitzen und die Flüssigkeit schluckweise zu trinken. Was soll ich Dir sagen? Es war das Köstlichste, was mir je durch die Kehle rann, weich, würzig, wohltuend und warm. Und dann sah ich nur noch die beiden Ladys lächeln und fiel in einen tiefen traumlosen Schlaf.

Ulrich Jaschek, 14. Dezember 2004